Selten waren junge Eltern so informiert wie heute – und selten so desinformiert. Das menschliche Gehirn ist nach hunderttausenden von Jahren einfachen Nomadenlebens auf einfache Wahrheiten programmiert und hat über tausende Generationen gut so funktioniert, wie es ist. Die moderne Art, eine Schwangerschaft und die Elternschaft zu betrachten, gleichen jedoch einer wahren Wissenschaft. Wer nur interessiert genug ist, könnte in Vollzeit seine Monate damit fristen, Bücher, Ratgeber und Blogs zu studieren um dem jungen Sprössling den perfekten Start ins Leben und die perfekte Förderung zukommen zu lassen. Wer dies nicht tut, sondern sich großteils unvorbereitet ins Abenteuer Schwangerschaft und Elternschaft stürzt, könnte meinen, etwas falsch machen zu müssen. Ich muss gestehen, ich selbst habe mich durch Bücher gewälzt als meine Frau schwanger war. Allein die Existenz von Schwangerschaftsvorbereitung, tausenden Büchern, tausenden verschiedene Meinungen, Tipps und Tricks und Geburtsplänen erwecken den Eindruck, dass sie allesamt einen höheren Existenzgrund besitzen und damit obligatorisch sind um der Macht des größten menschlichen Wunders etwas Kontrolle entgegen setzen zu können. Doch die Wissenschaft kann ein Lied davon singen: je mehr man weiß, desto mehr Fragen kommen auf. Was bleibt, sind Eltern, die völlig verkopft einen solchen natürlichen und von Mutter Natur perfektionierten Prozess als eine Art Olympiasport betrachten. Man könnte sich wundern, wie es der Mensch in tausend Generationen ohne Bücher und Babykurse bis hierhin geschafft hat.
Druck aufbauen ohne es zu wollen
Die Existenz von Kursen für Babys erzeugt unausgesprochenen Druck, diese Kurse wahrnehmen zu müssen. Als junge verunsicherte Eltern geht man ja schließlich davon aus, dass diese Angebote einen Zweck erfüllen – nehme ich es nicht an, dann verpasst mein Kind etwas. Der Fokus der Eltern verschiebt sich von einer natürlichen „Beiläufigkeit“ zunehmend hin zu einer besonderen Wissenschaft, in der man erst einmal Profi werden muss. Eine Anstrengung, denn es hört schließlich nicht auf. Wenn das Kind älter wird, kommen weitere Informationsquellen und weitere Kurse, welche alle eine Existenzberechtigung haben und den überforderten Eltern weitere Möglichkeiten vorschlagen, das eigene Kind zu verbessern. Wer das Beste für sein Kind will, soll diese Möglichkeiten dann auch gefälligst nutzen. Wenn ich sie nicht nutze, tue ich nicht das Beste für mein Kind. Eltern theoretisieren zunehmend über Konzepte und erhöhen ihr Kind von einem Individuum zu einer kleinen Gottheit, welche nur durch ihren Einsatz zu diesem hochwertigen Ergebnis menschlicher Qualitäten geworden ist. “Wenn der kleine Gott nicht funktioniert, dann habe ich versagt in all meinen Jahren der Hingabe”.
Ein paar Beispiele
- Zu viele Informationen bedeuten für eine Schwangere, sich mit unwahrscheinlichen, teils apokalyptischen Eventualitäten auseinanderzusetzen, die im schlimmsten – zum Glück sehr seltenen – Falle bei einer falsch-positiven Trisomie 21-Diagnose zur „versehentlichen“ Abtreibung eines gesunden Kindes führen kann. Jede Diagnostik besitzt schließlich Unsicherheiten.
- Bestimmte moderne Formen der Geburtsvorbereitungen können hin zu einer Traumvorstellung der perfekten Geburt führen, voller Selbstbestimmung und Planbarkeit – mit traumatisierendem Sturz auf den Boden der Realität, wenn es doch der ungewollte Kaiserschnitt werden muss. Und eine traumatisierende Geburt ist nicht selten ein entscheidender Faktor gegen ein weiteres Kind. Je höher die Erwartung, desto größer die Macht einer etwaigen Enttäuschung.
- Statistische Normen bezüglich der Entwicklung von Fähigkeiten eines Babys werden überinterpretiert. Wenn das Baby noch nicht stehen kann zu einem Zeitpunkt, an dem das durchschnittliche Baby es schon können „sollte“, entsteht Leistungsdruck. Wird dieser Leistungsdruck gefüttert und mit Argusaugen weiterhin auf die „richtigen“ Zeitpunkte von Entwicklungsschritten geschaut, dann läuft man Gefahr, sein Kind auch in Zukunft durch eine „Norm- und Leistungsbrille“ zu betrachten. Keine gute Grundlage für ein respektvolles Vertrauensverhältnis.
Früher und heute
Die Lebenssituation des Menschen hat sich grundsätzlich verändert. In der Urzeit wurde eine Frau im Laufe ihrer Kindheit selbst Zeugin zahlreicher Geburten. Sie war tagtäglich mit Babys, Kindern, Müttern und Problemen konfrontiert und somit als Erstgebärende bereits ein halber Profi. Der moderne Liberalismus und Individualismus fördert ein Zersplittern fester Familienstrukturen. Schwangerschaft, Geburt, Elternschaft und Erziehung werden zur Privatsache, welche nicht geteilt wird. Jeder hat sein Konzept, niemand sonst hat Anspruch darauf. Es bildet sich ein Flickenteppich unzähliger Ansätze von „richtig und falsch“. Wer außerhalb der kleinen familiären Blase lebt, hat weder Anspruch, noch die Befähigung, sich in die Blase einzumischen. Anstatt sich familiär zu informieren, bilden sich Eltern ihre Meinung über externe Medien. Somit sind die Eltern waffenlos der Übermacht von Informationen ausgeliefert, in dessen Dschungel sie sich erst einmal zurechtfinden müssen. An Stelle der Familie als kulturelle Informationsquelle kommt es zu einer Flut unterschiedlichster Ansätze, welche miteinander kombiniert und bedient werden müssen.
Natürlich gibt es auch die Situation, dass junge Eltern sich bewusst von ihrer Familie in Erziehungsfragen distanzieren wollen. Dies hat selbstverständlich seine Berechtigung wenn sie der Meinung sind, dass sich eine unharmonische Situation ergibt oder dass den eigenen Eltern in Erziehungsfragen wenig nachzueifern ist. Nicht umsonst unterscheiden sich moderne Erziehungsstile stark von früheren. Dieses Problem, welches sich nicht so schnell lösen lässt, macht eines sehr deutlich. Erziehung unterliegt gesellschaftlichen Strukturen und damit dem Zeitenwandel. Würde der Mensch noch ein natürliches Leben leben, würden sich Erziehungsfragen wie von selbst lösen. Entsprechende Strategien entwickeln indigene Völker von alleine, denn sie entwickeln sich aus den Strukturen des Alltags. Schwieriger ist es in unserer heutigen Gesellschaft. Diese ist unermesslich komplizierter als das einfache Leben in der Natur. Entsprechend komplex sind die Fragestellungen und Probleme, welche sich in Erziehungsfragen ergeben. Eine Lösung wird umso schwieriger.
Eine Lehre der Vergangenheit
Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte lässt sich eines feststellen: Nicht das Baby braucht verkopfte Eltern, damit es richtig behandelt wird. Die Eltern werden fast zwangsläufig verkopft in einer hochkomplexen modernen Welt, welche nicht mehr an ein eigentlich simples Leben mit Baby optimal angepasst ist. Moderne westliche Errungenschaften wie Individualismus, Liberalismus und wissenschaftlicher Fortschritt haben leider auch eine zweite Seite. Das Leben ist zwar sicherer und luxuriöser geworden, jedoch auch weitaus komplizierter.
Es ist ein komplexes Thema mit unendlichen Beispielen. Unterm Strich bleibt eine Idee, die alles miteinander vereint: schalten Sie Ihren Kopf aus in Schwangerschaft oder Elternschaft. Denken Sie mehr an sich selbst, machen Sie sich eine schöne Zeit oder haben Sie einfach nur Spaß mit ihrem Baby. Tun Sie, was Ihr Bauch Ihnen sagt und handeln Sie nach simpler Logik. Ganz ohne Hintergedanken. Wie gesagt, der Mensch hat hunderttausend Jahre ohne all den Kram überlebt.
“Wir haben durch unsere moderne Zivilisation viel gewonnen. Allen voran die niedrige Kinder- und Müttersterblichkeitsrate, beispielsweise dank des Kasierschnitts. Wir haben jedoch auch etwas verloren: die Einfachheit eines ursprünglichen Lebens und die Sicherheit und Lebenserfahrung einer ganzen Großfamilie, in welcher der Mensch früher mal gelebt hat. Wir können zumindest versuchen, ein wenig Ursprünglichkeit in unser kompliziertes modernes Leben zurück zu holen. Das Ziel heißt: Einfachheit, Reduktion und Logik. Kein Zwang zur Perfektion, Standardisierung und Maximalförderung fürs Kind.”
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