Erworbene Unbeweglichkeit

Die meisten Menschen geraten spätestens im mittleren Lebensdrittel in einen folgenschweren Teufelskreis: Tagtäglicher Dehnungsmangel führt zu einer stetigen Versteifung der Muskulatur. Da dies über Jahrzehnte hinweg geschieht, werden diese Menschen immer fester und damit immer unbeweglicher. Ihnen fällt auf, dass „ich nicht mehr so beweglich bin wie früher“ oder dass „man ja alt wird“. Die Unbeweglichkeit und Steifheit ist jedoch nicht direkt Folge des Alters sondern Folge des Umstandes, dass man im Laufe des Alterns immer mehr Zeit hat, seinen Körper falsch zu behandeln. Der Kreislauf ist folgender:

Mangelnde Bewegung und Dehnung → Spannungsaufbau → weniger Elastizität → Einschränkung der Beweglichkeit → Vermeidung bestimmter Bewegungen → Mangelnde Bewegung und Dehnung → etc…..

So reduziert sich im Laufe des Versteifungsprozesses peu à peu die Bewegungs- und Dehnungsvielfalt, die wir unserem Körper bieten. Als Kind hocken wir noch auf dem Boden, spielen, laufen und klettern. Im Schulalter beginnt der Prozess mit dem ständigen Sitzen in der Schule und dem Sitzen zuhause. In Ausbildung/Studium geht der Prozess weiter und endet schließlich in einer 40-Stunden-Woche mit immer den gleichen Bewegungsmustern, im schlechtesten Fall auf dem Bürostuhl. In diesen monotonen Bewegungsmustern verbringen wir fast jeden Tag von morgens bis abends, bis wir erschöpft sind. Wenn wir erschöpft zu Hause ankommen, wollen wir berechtigterweise entspannen. Doch wie entspannt der moderne Bürger? Vor allem nach folgendem Prinzip: gemütlich sitzend oder liegend auf dem Sofa. Dieser Prozess geht nun über Jahrzehnte weiter und führt von Tag zu Tag zu einer zunehmenden Einsteifung der Muskulatur.

Das grundlegende Prinzip hinter der Einsteifung

Der Mechanismus, der jeden von uns einsteifen lässt, ist überall zu beobachten. Morgens fühlt sich jeder fester und unbeweglicher als am Vorabend. Bereits in diesen paar Stunden des Schlafes hat sich die Muskulatur verfestigt. Sie recken Ihre Hände zum Himmel, um sich zu strecken. Selbst Hunde und Katzen dehnen sich nach dem Schlafen.

Durch Dehnung und Bewegung reaktivieren wir die feste Muskulatur aus ihrem Energiesparmodus. „Energiesparmodus“ ist dabei das Stichwort: Ein fester Muskel kostet den Körper weniger kcal im Unterhalt. Dies ist ein Relikt aus der Urzeit aller Lebewesen, wo jedes kcal überlebenswichtig ist. So nutzt der Körper jede Gelegenheit, um so viele Muskeln wie möglich in den Ruhezustand (Spannung) zu versetzen. Selbst die paar Stunden in der Nacht sparen eine Handvoll kcal.

Der Spannungsaufbau in der Muskulatur diente also ursprünglich einem höchst sinnvollen Zweck. In unserer modernen Gesellschaft jedoch gibt es keine Nahrungsmittelknappheit. Dennoch stecken diese Mechanismen aus der Urzeit in uns. So werden die meisten von uns im Laufe des Lebens immer fester und unbeweglicher.

“Man wird ja älter”

Ein Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, eine höhere Macht unterbreitet Ihnen ein Angebot. Sie erhalten in den letzten Jahrzehnten Ihres Lebens eine körperliche Beeinträchtigung in Form von massivem Beweglichkeitsverlust – und das kostenfrei. Würden Sie ja sagen?

Jeder von uns würde Berge versetzen, um diesem Deal zu entgehen. Ironischerweise ist es ebendieser Deal, den die meisten Bürger eines Industriestaates eingehen. Wir merken davon schlichtweg nichts, da es sich um einen schleichenden Prozess handelt, der ein halbes Jahrhundert lang vonstatten geht. Wie der Frosch, dessen Wasser nur ganz langsam zum Kochen gebracht wird, gewöhnen wir uns jedes Jahr an die neue Bewegungseinschränkung, bevor wir merken, dass etwas nicht stimmt. Darüber hinaus geht es ja schließlich allen so, denn „man wird ja älter“.

Natürliches Bewegen im Alltag ist entscheidend

Der ganze Körper muss also gedehnt und bewegt werden. Das Problem hierbei ist: Um dieses Pensum zu erfüllen, müsste man sich jeden Tag viel Zeit nehmen, um eine komplexe Abfolge von Dehnungsübungen durchzuführen. Diese Zeit haben viele jedoch nicht oder sie haben schlichtweg keine hinreichende Motivation, sich diese Zeit zu nehmen. Aus diesem Grund bin ich kein Freund von komplexen Dehnungsprogrammen. So gut und effektiv sie im Einzelfall sein mögen, sie eignen sich kaum, um der breiten Masse an Menschen eine Möglichkeit an die Hand zu geben, ihrem Körper die Elastizität wiederzugeben, welche ihm die Natur eigentlich zugeschrieben hat. Dies ist auch nicht notwendig.

Man denke an afrikanische Dörfer, deren Bewohner noch sehr ursprünglich leben. Selbst die Alten sind überaus beweglich. Diese Menschen haben ihr Leben lang keine Dehnungsübung gemacht und werden sie auch nie benötigen. Sie kriegen alles, was sie brauchen, aus ihrem natürlichen Alltag. Ein natürlicher Bewegungsalltag bietet dem menschlichen Körper alles, was er braucht, um beweglich zu bleiben. Genau hier liegt auch das Ziel für uns.

Stühle? Nein danke.

Die erste und wichtigste Maßnahme ist ganz einfach: Sitzen Sie auf dem Boden – so viel, wie Sie können. Sie werden merken: So zu sitzen, ist überaus ungemütlich. Es ist ungemütlich, weil alles wehtut. Es tut weh, weil Sie zu fest sind. Je ungemütlicher das Sitzen auf dem Boden ist, desto nötiger haben Sie es. Doch was macht das Sitzen auf dem Boden so wichtig? Hierzu ein Vergleich mit einer komplexen Dehnungsabfolge:

  1. Marianne macht jeden Tag 40 Minuten lang 10 Dehnungsübungen, die sie von 3 verschiedenen Therapeuten gezeigt bekommen hat. Sie fühlt sich gut damit, jedoch kommt irgendwann der Schweinehund durch. Sie vergisst es immer häufiger; und nach ein paar Monaten hat sie fast vergessen, dass sie sich ja dehnen wollte.
       
  2. Birthe geht den unkomplizierten Weg. Sie setzt sich einfach auf den Boden. Nach der Arbeit isst sie mit ihrem Mann um 19 Uhr ihr Abendbrot auf dem Wohnzimmerteppich. Danach gucken sie die Tagesschau – auf dem Teppich. Danach liest sie ein Buch – auf dem Teppich. Zum Schluss telefoniert sie noch mit ihrer Mutter – auf dem Teppich. Um 22 Uhr fällt ihr ein: „Ich wollte mich doch dehnen!“ Im selben Moment stellt sie erleichtert fest: „ach, hab’ ich ja bereits“. Birthe hat nicht eine einzige Minute investiert, um sich zu dehnen; und doch hat sie 3 Stunden Dehnung bekommen.

Es braucht nicht viel

Um dem Körper das zu geben, was er braucht, um beweglich und schmerzfrei zu werden, braucht es im Grunde nicht viel. Das Sitzen auf dem Boden ist natürlich nicht die Lösung für jedes Problem. Doch ist es der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einem natürlichen Bewegungsalltag.

Je nach individueller Situation bedarf es weiterer Maßnahmen. Es wäre ja zu schön, wenn es eine goldene Lösung für jedes Problem gäbe. Diese Maßnahmen sind jedoch nie kompliziert und sollten immer so gestaltet sein, dass sie letztendlich zum Selbstläufer werden und die Verspannungen der Zukunft im Vorhinein lösen und gar nicht erst zum Problem werden lassen.

“Es hat sich längst eingebürgert, dass Schmerzen und Bewegungsverlust normale Begleiterscheinungen des Alters sein sollen. Dass das nicht die ganze Wahrheit ist und jedermann viel dagegen tun kann, sehe ich Aufklärung als meine Aufgabe. Denn mit geringem Aufwand lässt es sich bis zum Lebensende profitieren.”




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