Gedankenexperiment gegen Stress

Sie stehen an der Supermarktkasse. Ihr Tag war bislang wenig erfreulich. Der Kassierer macht einen unfreundlichen Eindruck und redet unhöflich mit Ihnen. Beleidigt gehen Sie fort mit noch schlechterer Laune als vorher. „Der Kassierer war super unfreundlich“ beklagen Sie sich später. Durch diese Erfahrung wissen Sie den Kassierer einzuordnen. „Das ist ein Mensch, mit dem ich nichts zu tun haben will“. Ihre Meinung ist hiermit gebildet, ein Mensch in eine Schublade einsortiert.

Es passiert so schnell. Es braucht nur einen falschen Blick, eine schiefe Betonung, und jemand denkt schlecht von mir. Dabei hat der Kassierer es vielleicht gar nicht so gemeint, war in Gedanken versunken oder hatte schlichtweg selbst einen schwierigen Tag. Er ist womöglich kein Schauspieler, der trotz seines schlechten Tages eine strahlende Maske aufsetzen kann.

Was Sie in diesem Moment getan haben: Sie haben ihr (schlechtes) Urteil über ein ganzes Menschenleben gefällt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit ihrem Urteil über den Kassierer falsch liegen, weil Sie die Situation falsch interpretiert haben, ist sehr hoch. Höher als die Wahrscheinlichkeit, dass Sie damit richtig liegen. Und dennoch haben Sie jemanden anhand dieses fälschlichen Urteils bewertet. Dieser Umstand ist menschlich und doch falsch. Man könnte nun sagen „ich sehe den Kassierer nie wieder“, was richtig sein mag. Aber diese Urteile fällen Sie täglich. Auch über Freunde und Familie. Sie bewerten auch Ihre Nächsten anhand oberflächlicher Interpretationen oder Missverständnisse – und Ihr Gegenüber hat nicht einmal die Chance sich zu verteigen. Um das zu tun, müsste er ja von Ihren Gedanken wissen.

Der Schaden

Auf der einen Seite schaden Sie damit den Menschen mit denen Sie sich umgeben, da Ihre fälschliche Interpretation Ihre zukünftige Handlungsweise beeinflussen wird. Auf der anderen Seite schaden Sie sich selbst. Und das ist der eigentliche Kern dieses Beitrages: unter einem vorschnellen Urteil leiden vor allem Sie selbst.

Der Grund liegt in unserer Stresswahrnehmung. Ein Stress beginnt immer erst im eigenen Kopf. Hierzu ein überzogenes Beispiel: die Apokalypse stellt kein Problem dar, wenn es kein Lebewesen gibt, welches sich daran stören könnte. Übersetzt bedeutet dies: Die Unfreundlichkeit des Kassierers stellt kein Problem dar, solange Sie sich nicht daran stören. Die schlechten Gefühle durch die Unhöflichkeit des Kassierers entstehen erst in Ihrem Kopf. Daher die Feststellung: ein Stress beginnt immer erst im eigenen Kopf. Hätten Sie die Handlungsweise des Kassierers ganz anders interpretiert, nämlich freundlich, dann hätten Sie keinen Stress empfunden, sondern Freude. Das Problem im engeren Sinne ist nicht der Kassierer, sondern Ihre Interpretation. Wenn Sie nun einer womöglich falschen Interpretation folgen und anhand dieser Ihren Gegenüber bewerten, dann ist der Grund für ihren wahrgenommenen Stress ein selbstverschuldeter Irrtum. Wenn Sie nun einen chronischen Schmerz haben, dessen Ursache unter anderem Stress sein kann, dann ist Ihre womöglich fälschliche Interpretation der Situation im Supermarkt ein Baustein ihrer körperlichen Beschwerden.

Warum der Anwalt des Teufels hilfreich ist

Stellen Sie sich nochmal die Situation an der Kasse vor. Der Kassierer, welcher unfreundlich ist, ist in diesem Moment ihr Gegenspieler, Ihr Antagonist. Wenn Sie egozentrisch handeln, dann versuchen Sie lediglich, Ihre eigene Sichtweise zu bestätigen: „ich weiß, dass er es schlecht meint mit mir. Deshalb habe ich das Recht mich zu ärgern“. Wenn Sie wirklich ehrlich mit sich wären, müssten Sie zwangsläufig einsehen, dass Sie es niemals sicher wissen können, ob der Kassierer es wirklich schlecht mit Ihnen meint. Dazu müssten Sie ihn fragen. Es ergeben sich also zwei Handlungsweisen:

1) Sie sprechen den Kassierer auf Ihre Bedenken an und geben ihm die Chance, das richtig zu stellen oder zu bestätigen. Im letzteren Fall können Sie dann mit Fug und Recht sagen: „Er hat bestätigt, es schlecht mit mir gemeint zu haben. Nun kann ich mir meine schlechte Meinung bilden“

2) da Sie ihn vermutlich nicht darauf ansprechen werden, müssten sie die Rolle des Teufels’ Anwalt einnehmen: „welchen nachvollziehbaren Grund könnte der Kassierer theoretisch haben, mir gegenüber ungewollt unfreundlich zu sein?“ Die Gründe sind natürlich unendlich vielfältig. Sie können es niemals wissen. Es könnte alles sein. Da Sie es nicht mit Sicherheit wissen können, warum der Kassierer unfreundlich ist, können Sie sich auch kein Urteil bilden. Sie bleiben also zwangsläufig urteilsfrei. Ohne Urteil, kein Ärger. Ohne Ärger, kein Stress. Weniger Stress = weniger Muskelspannung = weniger Schmerzen bzw. geringere Wahrscheinlichkeit an Schmerzen zu leiden.

Die Moral von der Geschichte

Der advocatus diaboli ist im eigentlichen Sinne eine rhetorische Technik, die Position der Gegenseite bewusst zu übernehmen um einen Sachverhalt zu beleben. Das selbe Prinzip lässt sich nutzbringend für die gesamte Gedankenwelt nutzen. Anstatt mich über Alles und Jeden zu ärgern und mir den Kopf zu zerbrechen, warum es alle Menschen immer so schlecht mit mir meinen, kann ich auch einsehen, dass ich schlichtweg nicht genug Informationen habe, um meine Interpretationen zu bestätigen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mir keine Meinung zu bilden. Eine Alternative gibt es ansonsten auch: wer keine Lust hat, den Anwalt des Teufels zu spielen, der kann auch einfach mit den Menschen reden, damit diese für sich selbst einstehen können.

“Stress in all seinen Facetten ist ein Thema, welches kaum zu unterschätzen ist. Dabei wage ich gerne den Schritt in eine philosophisch-naturwissenschaftliche Betrachtung da hier viele Hinweise und Anreize zu finden sind, welche im Umgang mit etwas so Diffusem wie Stress eine Weichenstellung bieten können.”



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