Wann immer Claudia auf der Arbeit unter Druck gerät, wandern ihre Schultern aufwärts und nähern sich der Decke an. Dasselbe passiert Zuhause, wenn ihr Ehemann wieder mal einen Streit vom Zaun bricht. Sie kennt es kaum, dass ihre Schultern dort sind, wo sie eigentlich hingehören. Entspannt hängend. Einer der zwei entscheidenden Gründe für diesen Effekt liegt in der Atmung, genauer im Unterschied zwischen Bauch- und Brustatmung. Zum Verständnis muss man wissen, wieso es zwei Wege gibt, zu atmen.
Der anatomische Unterschied
Die Bauchatmung nennt sich Bauchatmung, da sich der Bauch währenddessen anhebt, also etwas größer wird. Bei der Brustatmung hingegen verändert sich der Bauch nicht, stattdessen hebt sich der Brustkorb an. Der Unterschied liegt in der genutzten Muskulatur.
Unter den Lungen liegt ein großer flacher Muskel (Zwerchfell), der wie eine trennende Wand die Organe des Brustraumes (Lungen, Herz) von den restlichen Organen im Bauchraum separiert, also in zwei Räume unterteilt. Da dieses Zwerchfell ein Muskel ist, können wir es bewusst steuern. Mit der Anspannung wandert diese liegende Wand wenige Zentimeter im Bauch abwärts, wodurch die Lungen „aufgezogen“ werden. Der dabei entstehende Unterdruck zieht die Luft hinein.
Bei der Brustatmung spannt sich die Muskulatur des Brustkorbes an, die man beim Schwein als „Rippchen“ bezeichnen würde. Zwischen jeder unserer 24 Rippen liegt Muskulatur, welche bei ihrer Benutzung den Brustkorb aufspannt wie ein Zelt. Dadurch entsteht ebenfalls ein Unterdruck, welcher Luft hineinzieht. Bei diesem Vorgang hilft die Halsmuskulatur, indem sie die obersten Rippen an sich heranzieht damit der Brustkorb besser aufgerichtet und vergrößert werden kann.
Der evolutionäre Unterschied
Beide Atemvarianten erfüllen spezielle situationsabhängige Aufgaben. Stellen Sie sich die Steinzeit vor. Sie stehen als Urmensch einem Säbelzahntiger gegenüber. Sie sehen sich gezwungen eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu nutzen um Ihr Überleben und das Ihrer Familie zu sichern. In beiden Fällen müssen Sie körperliche Höchstleistungen erbringen mit entsprechendem Sauerstoffbedarf. Körperliche Höchstleistungen bringen Sie in Bewegung, das heißt: Sie rennen. Beim Rennen nutzen Sie den Großteil Ihrer Muskulatur und sind dabei natürlich auch auf Ihre Bauchmuskulatur angewiesen. Wenn sich die Bauchmuskulatur anspannt, kann Ihr Bauch sich jedoch nicht ausreichend ausdehnen, was eine Voraussetzung für die Bauchatmung ist. Daher muss ihr Körper die Brustatmung als Ergänzung hinzuziehen um den Sauerstoffbedarf in diesem Moment zu decken. Brustatmung erfüllt evolutionär stets den Zweck den erhöhten Sauerstoffbedarf im Leistungsfall zu decken, was in der Urzeit des Menschen vor allem bei Gefahr geschieht. Gefahr bedeutet hierbei Lebensgefahr. Die Brustatmung ist daher neurologisch mit dem emotionalen Zustand der Angst assoziiert, in dem wir uns befinden. Unter Stress beginnt der Körper mit der Brustatmung. Sind wir entspannt, überwiegt wieder die Bauchatmung. Normalerweise jedenfalls …
Das Problem: moderne Stressoren dauern üblicherweise nicht einige Minuten, Stunden oder ein paar Tage an. Moderne Stressoren dauern lange. Wochen, Monate und Jahre vergehen oft, bis ein Stress sich legt, wenn überhaupt. Auf eine solche Stressdauer ist der Körper nicht ausgelegt. Die Brustatmung dient ursprünglich als kurzfristige Ergänzung bei erhöhtem Sauerstoffbedarf, nicht als dauerhafter Ersatz für die Bauchatmung. Doch genau dies geschieht. Chronischer Stress gewichtet die Brustatmung höher. Dies ist anatomisch in dem Maße jedoch nicht vorgesehen. Die ständige Nutzung der Zwischenrippenmuskulatur fördert im Laufe von Jahren und Jahrzehnten eine zunehmende Dauerspannung, welche zu einem festen Brustkorb führt. Die ständige Nutzung der Halsmuskulatur führt zum gleichen Effekt am Hals. Und da kommen wir zur Ausgangssituation. Die hochgezogenen Schultern. Die Brustatmung fällt uns leichter, wenn wir die Schultern anheben. Die angezogenen Schultern sind daher in vielen Fällen Folge einer verstärkten Brustatmung durch emotionale Anspannung.
Es kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Ihr Körper ist evolutionär nicht für chronischen Stress ausgelegt, stattdessen vor allem für kurze, heftige Stressoren wie die Flucht vor dem Säbelzahntiger. In diesen Situationen bedarf es einer Kampf- und Fluchtreakton mit hohem Sauerstoffbedarf. Aufgrund der Notwendigkeit der Bauchmuskulatur für maximale körperliche Leistung weicht die Atmung in die Brust aus da die Bauchatmung wegen der angespannten Bauchmuskulatur nicht gut funktioniert. Da der Stress, in dem Sie sich befinden, jedoch nicht nach wenigen Minuten vorbei ist, sondern Wochen und Jahre anhält, neigt ihr Körper weiterhin dazu, in die Brust zu atmen, in der Erwartung, die Flucht vorm Säbelzahntiger stünde kurz bevor.
So führt Stress zur einem veränderten Atmungsverhalten mit chronischem Spannungsaufbau vor allem an Brustkorb und Hals. Die Schultern wandern immer höher um die überwiegende Brustatmung zu erleichtern. Die nun gebildete chronische Spannung bietet dabei eine fruchtbare Grundlage, auf welcher Schmerzsyndrome wie Nacken-, Kopf- oder Schulterschmerzen entstehen können.
Eine erste Maßnahme
Testen Sie sich selbst: Legen Sie sich auf den Rücken und legen Sie Ihre Hände auf Ihren Bauchnabel. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Hände einen Fahrstuhl repräsentieren, den Sie versuchen während der Einatmung Richtung Zimmerdecke zu heben. Wenn Sie in den Bauch einatmen, wird Ihr Bauch größer. Der Grund liegt, wie eingangs beschrieben, an der Bewegung des Zwerchfells Richtung Füße. Dabei werden die Bauchorgane etwas verschoben, welche dann nach vorne rutschen und die Bauchdecke dadurch anheben. Je höher der Fahrstuhl Richtung Zimmerdecke wandert, desto intensiver ist die Bauchatmung. Ziel ist es also, eine möglichst intensive Bauchatmung zu forcieren damit man lernt, bewusst das Zwerchfell zu nutzen. Dies lässt sich zu Anfang leicht im Liegen für ca. 15 Minuten machen. Regelmäßig wiederholt führt diese simple Übung zu einem Lerneffekt, der es einem langfristig zunehmend leicht macht, bewusst auch unter Stress in den Bauch zu atmen. Wenn die Bauchatmung bei Stress bewusst genutzt wird, hat dies einen beruhigenden Effekt. Falls Ihr Fahrstuhl einfach nicht Richtung Zimmerdecke wandern will und sich stattdessen nur Ihr Brustkorb anhebt: vermutlich hat sich Ihr Körper bereits seit Jahrzehnten durch anhaltende chronische emotionale Anspannung so sehr an die Brustatmung gewöhnt, dass Sie die gezielte Bauchatmung verlernt haben. Keine Sorge, das lässt sich korrigieren.
Bauchatmung bei Schmerzsyndromen
Die Atmung hat einen oftmals wesentlichen Einfluss auf die Entstehung und der Erhaltung chronischer Spannung, welche zu Schmerzen führt. Daher nimmt eine bewusste Korrektur der Atmung einen gewissen Teil in der Therapie solcher Schmerzsyndrome ein. Neben der Atmung gibt es weitere Ursachen für Schmerzen, welche individuell sehr verschieden sind. Bei Fragen zur Bauchatmung oder wie eine weitergehende Therapie aussehen könnte, kontaktieren Sie mich über das Kontaktformular.
“Die alltägliche Praxis zeigt immer wieder, welche übergeordnete Bedeutung die Atmung hat. Vor allem bei Schmerzsyndromen in der oberen Körperhälfte erweist sich die Atmung oft als entscheidender ursächlicher Faktor für Kopf- und Nackenschmerzen sowie Schmerzen im Bereich des Brustkorbes oder auch bei der Atmung”
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